Weidet die Herde Gottes


Prof. Dr. CHRISTOPH STENSCHKE
Leiter des Akademischen Aufbauprogramms, Dozent für Neues Testament

 

In Epheser 4 zählt Paulus einige der Aufgaben auf, die für Gemeinden wichtig sind. Christus hat „einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer“. Zusammen mit Jesusnachfolgern mit noch weiteren Gaben sollen die Heiligen dadurch zum Dienst zugerüstet werden (Eph 4,11-12). Zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Konfessionen hat man sich auf eine oder einige dieser Aufgaben konzentriert und dabei die anderen Aufgaben und Geistesgaben, die Gemeinde so dringend braucht, wenn sie ihrem Wesen und ihrer Berufung nachkommen soll, manchmal vernachlässigt.

Einige als Hirten …

In diesem Artikel geht es um die Hirten, ohne dabei andere Aufgaben abzuwerten. Hirten sind im biblischen Verständnis keineswegs nur die „Kümmerer“, die Gemeinden „betütteln“ (anstatt sie voranzubringen), sondern Menschen, die Gemeinden vorangehen, sie versorgen, schützen, zusammenhalten und Einzelne im Blick behalten und ihnen nachgehen. So leiten sie. Das brauchen wir jetzt dringend in und nach den Umwälzungendurch die Epidemie. Wenn ich hier von den Hirten spreche, geht es mir nicht nur um hauptamtliche Mitarbeiter oder Menschen aus dem Leitungskreis einer Gemeinde, sondern um eine Aufgabe, die alle Christen angeht.
In der Miletrede des Paulus – seine einzige, längere Rede vor Christen in der Apostelgeschichte (20,17-35) – legt er einen Rechenschaftsbericht über sein bisheriges Wirken ab und gibt den Gemeindeleitern Weisungen für ihre Aufgaben. Sie beginnen mit der Aufforderung: „So habt nun acht auf euch selbst und die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist eingesetzt hat zu Aufsehern, zu weiden die Gemeinde Gottes, die er durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben hat“ (Apg 20,28).
In Epheser 4,11 und hier verwendet Paulus ein Bild, das in der ganzen Bibel weit verbreitet ist. Zum einen spricht sie von Gott als dem Hirten, der treu für sein Volk sorgt. Wir kennen und lieben den 23. Psalm, in dem Gott als der gute Hirte beschrieben und bekannt wird. Im Neuen Testament spricht Jesus von sich als dem guten Hirten, dessen Stimme die Seinen kennen und die ihm nachfolgen. Sein Hirtendienst geht so weit, dass er als der gute Hirte sein Leben stellvertretend für die Seinen lässt (Joh 10,1-30).
Im Alten Testament wird das Bild vom Hirten auch für Menschen verwendet. Der Hirte David soll als König Gottes Volk Israel weiden (2 Sam 5,2). Immer wieder werden die Könige und Leiter Israels als schlechte Hirten ihres Volkes bezeichnet, die sich nicht um die ihnen anvertraute Herde kümmern, sondern nur ihre eigene Bequemlichkeit und ihre eigenen Interessen im Blick haben (etwa Hes 34). Die Propheten kündigen an, dass Gott Hirten nach seinem Herzen bestellen wird bzw. einmal selbst sein Volk weiden wird (Hes 34; Micha 5,1).
Solche Aussagen greift Paulus mit seiner Erwähnung von Hirten in Apostelgeschichte 20 und Epheser 4 auf. Heutzutage kennen die meisten von uns keine Hirten mehr; wir haben vielleicht recht romantische Vorstellungen von Hirten, aber kennen ihre Herausforderungen und Aufgaben kaum. Für die Menschen in den weitgehend agrarisch geprägten Gesellschaften in biblischer Zeit dagegen waren Hirten eine tägliche Erfahrung. An vielen Stellen der Bibel kommen sie und ihre ganz unterschiedlichen Aufgaben vor.

Drei wichtige Aufgaben von Hirten gehören aus meiner Sicht unbedingt zum Leitungsdienst dazu:

Die Herde versorgen

Gute Hirten beuten ihre Herde nicht aus, sondern versorgen die ihnen anvertraute Herde gut. Nicht umsonst heißt es im Psalm 23: „Weil der Herr mein Hirte ist, habe ich keinen Mangel. Er weidet mich auf grüner Aue und führt mich zum frischen Wasser.“ Das gilt zum einen für die konkrete Linderung materieller Not. Die Gemeinde in Jerusalem hat sich um die Versorgung der Witwen gekümmert (Apg 6,1-7). Dazu kommt die geistliche Versorgung: von Gottes Wort her das austeilen, was Menschen brauchen, um im Glauben zu wachsen, Jesus klarer zu sehen, ihn mehr zu lieben, ihm treuer nachzufolgen und ihm treuer zu dienen. Dies geschieht in ganz unterschiedlicher Weise: von der Predigt im Gemeindehaus über die Sprachnachricht im Handy bis zum persönlichen Gespräch am Küchentisch oder am Arbeitsplatz. Kurzum: dazu helfen, dass Menschen Christen bleiben und mündige Nachfolger Jesu werden, die wiederum andere versorgen können.
In den vergangenen Monaten haben wir viele neue Möglichkeiten entdeckt, solche Dienste auch jenseits unserer traditionellen Gemeindeprogramme zu tun. Jetzt gilt es, unsere neuen Erfahrungen mit digitalen Formaten auszuwerten, anzupassen und weiterzuentwickeln – vielleicht auch in Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden – und unsere gewohnten Formate zu überdenken. Was dient diesem Ziel, was nicht? Und: wo ist vielleicht auch materielle Not entstanden oder gewachsen, die gelindert werden muss?

Die Herde schützen

David hat als junger Hirte seine Herde gegen wilde Tiere verteidigt (1 Sam 17,34-35). Hirten bewahren ihre Herde vor geistlichen Räubern, Eindringlingen und Verführern. In postmodernen Zeiten, in denen keine Wahrheit mehr gilt, die Verunsicherung auch in Gemeinden groß ist und manche Christen kaum mehr in gesunder Lehre verwurzelt sind und entsprechend leben, ist dies eine herausfordernde Aufgabe. Hirten sollten zumindest dazu anleiten, nach welchen Kriterien man im schier endlosen Angebot auch christlicher Inhalte (Bücher, Internet etc.) finden kann, was wirklich geistlich weiterbringt. Der beste Schutz der Herde ist eine gesunde Lehre!

Einzelnen Schafen der Herde nachgehen

In einem Gleichnis erzählt Jesus von einem Hirten, dem ein Schaf verloren gegangen ist. Dieser lässt die Herde an einem sicheren Ort zurück und macht sich auf den Weg, um das eine Schaf zu suchen, das sich verirrt hat. Als er es findet, freut er sich enorm und bringt das verlorene und gefundene Schaf, das alleine nicht leben kann, zurück zur Herde (Lk 15,1–7). Jesus gebraucht dieses Bild für seinen Dienst – er war unterwegs auf einer „Search and Rescue“ Mission. Dieser Auftrag und der damit verbundene Einsatz gilt auch für die Hirten von heute.
Durch die Pandemie und die erforderlichen Maßnahmen haben Gemeinden manche Leute „verloren“. Jetzt, wo man wieder zusammenkommen kann, bleiben Plätze leer. Warum? Das kann man nur jeweils vor Ort herausfinden! Bleiben Einzelne aus Angst vor Ansteckung immer noch zu Hause? Können oder wollen sie nicht mit den angeordneten Maßnahmen leben? Haben sie sich an digitale Angebote gewöhnt, sind sie verwöhnt? Haben sie digital andere Gemeinden entdeckt und sich aus ihren bisherigen Gemeinden innerlich längst verabschiedet? Werden sie von Zweifeln geplagt? Stehen sie noch in der Nachfolge Jesu? Leiden sie an Ängsten? Was brauchen sie jetzt?

Wir brauchen „aufsuchende Gemeindearbeit“!

Neulich ist mir ein hilfreicher Begriff begegnet: „Aufsuchende Sozialarbeit“ – wenn sich etwa Sozialarbeiter im Kontext städtischer Jugendarbeit nicht in Begegnungsstätten „verschanzen“, sondern dahin gehen, wo die Jugendlichen sind und wann sie sich dort treffen. Jetzt brauchen wir „aufsuchende Gemeindearbeit“! Wenn Geschwister nicht mehr kommen, gilt es sie anzurufen, anzuschreiben, hinzugehen. Gefragt sind Zuhören, Verstehen, Einladen und Ermutigen.
Ja, als Gemeinden sollen wir alles versuchen, Menschen zu Jesus zu führen und – im Bild gesprochen – so neue Schafe für die Herde zu gewinnen. Genauso wichtig ist es jedoch, die mehr oder weniger „verlorenen“ Schafe zu suchen und zurückzugewinnen – und dabei die nicht zu vernachlässigen, die sich treu zur Herde halten und unauffällig dabei sind.

Wie Schafe ohne Hirten

Angesichts dieser wichtigen Aufgaben wird verständlich, wie verheerend es wird, wenn Hirten fehlen oder ihren Dienst vernachlässigen. Jesus vergleicht die Menschen seiner Zeit mit Schafen, die keinen Hirten haben (Mt 9,36). Sie sind unterernährt, zerstreut und höchst gefährdet. Die Beschreibung in Hes 34 ist aufrüttelnd:

„Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und … sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.“

Diese Aufgaben bringen hohe Anforderungen an den Charakter der Hirten mit sich: Verantwortung, hohe Einsatzbereitschaft und Treue (nicht umsonst fordert Paulus Hirten auf, zuerst auf sich selbst achtzuhaben!). Hirten dürfen ihre Aufgabe nicht missbrauchen oder übergriffig handeln, sonst kommt es zu geistlichem Missbrauch.
Und – die Hirten der Gemeinde schnüren nicht für alle anderen in der Gemeinde ein „Rundum-sorglos-Paket“. Das können und sollen sie nicht leisten. Die Hirten ziehen nicht alle Aufgaben an sich. Neben ihrem eigenen Einsatz schaffen sie Rahmenbedingungen für die ganze Gemeinde. Dann ist jeder Einzelne gefragt – die Hirten und andere Menschen in der Nachfolge Jesu sind auch selbst zuständig für ihr geistliches Leben; diese Verantwortung kann nicht an die Hirten abgeschoben werden. Und: Hirten fördern andere, leiten sie an und arbeiten mit ihnen zusammen – denn eigentlich kann und soll jeder Nachfolger Jesu „Hirtendienste“ übernehmen und sich so um andere sorgen.

Verantwortung und Lohn der Hirten

Weil Jesus der Chefhirte der Schafe ist und bleibt (1 Petr 5,4), weil Gemeinde immer die Herde Gottes ist (Apg 20,28), verpflichtet Hirtendienst zur Sorgfalt: Wir haben es nicht mit irgendwelchen Menschen zu tun, sondern mit Mitgliedern der Herde Gottes! Darum heißt es :

„Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als die Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde“ (1 Petrus 5,2- 3).

Gleichzeitig haben Hirten und ihr Einsatz eine große Verheißung: „Und wenn der Oberhirte offenbar geworden ist, so werdet ihr den unverwelklichen Siegeskranz der Herrlichkeit empfangen“ (V. 4).
Hirten? Ja, wichtiger denn je! Und zugleich in Verbindung mit den anderen Aufgaben, die in Epheser 4 genannt werden, und den anderen Gnadengaben, die im Neuen Testament erscheinen.

 

Artikel erschienen in:
Offene Türen 2022-1
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